In dem wunderbaren und überhaupt sehr lesenswerten Buch Feuer der Freiheit – Die Rettung der Philosophie in finsteren Zeiten von Wolfram Eilenberger stolpere ich über eine Bemerkung der französischen Philosophin Simone Weil:

„Die Menschheit geht jetzt fast überall einer totalitären Form gesellschaftlicher Organisation – nach einem von den Nationalsozialisten häufig genutzten Ausdruck – entgegen, d.h. einem Regime, wo die Staatsmacht in allen Bereichen souverän herrscht, sogar und ganz besonders im Bereich des Denkens.“ (Simone Weil, Unterdrückung und Freiheit)
Diese Beobachtung von Simone Weil führt uns mitten hinein in eine Diskussion, die uns bis heute beschäftigen muss: Wie sehr prägt der Sprachgebrauch totalitärer Systeme unser Denken und Handeln? Inwiefern haben Begriffe, die im Nationalsozialismus eine zentrale Rolle spielten, Eingang in unsere heutige Sprache gefunden? Und wie können wir reflektiert damit umgehen, ohne uns unbewusst in die Denkmuster vergangener Ideologien verstricken zu lassen?
Sprache als Machtinstrument
Sprache ist nie neutral. Sie strukturiert unsere Wahrnehmung, setzt Grenzen und definiert, was als denk- und sagbar gilt. Die Nationalsozialisten waren sich dieser Macht sehr bewusst und setzten gezielt auf einen Sprachgebrauch, der bestimmte Konzepte und Denkweisen förderte. Begriffe wie Unternehmen und Organisation dienten dazu, die eigene Politik als pragmatisch, effizient und modern erscheinen zu lassen. Zwei Beispiele: Unternehmen Barbarossa – der Name der deutschen Invasion der Sowjetunion – suggerierte eine sachliche, fast wirtschaftliche Operation, statt eines verbrecherischen Angriffskrieges. Und: Organisation Todt – die zentrale Bauorganisation des NS-Staates – klang nach technokratischer Effizienz, während sie in Wirklichkeit auf Zwangsarbeit und unmenschliche Arbeitsbedingungen setzte.
Diese Begriffe verschleierten die eigentlichen politischen und moralischen Implikationen der nationalsozialistischen Maßnahmen. Sie ließen eine verbrecherische Politik als eine Frage der Organisationstechnik erscheinen.
Die Modernität der NS-Sprache
Der Sprachgebrauch der Nationalsozialisten war nicht nur ideologisch aufgeladen, sondern auch bewusst modern. Die Nazis wollten sich als eine Bewegung inszenieren, die den verkrusteten Strukturen der Weimarer Republik ein dynamisches, technokratisches System entgegensetzte. Dies spiegelt sich in der Wortwahl wider: Statt von Kriegen oder Invasionen sprach man von Unternehmen. Statt von administrativen Apparaten von Organisationen. Statt von Propaganda von Aufklärung. Der Nationalsozialismus war nicht rückwärtsgewandt, sondern nutzte bewusst eine Sprache, die Zukunftsorientierung, Effizienz und technokratische Rationalität ausstrahlen sollte.
Nach dem Zweiten Weltkrieg verschwanden viele Begriffe des NS-Sprachgebrauchs aus der Alltagssprache, doch einige überlebten in abgewandelter Form. Der Begriff Unternehmen wird heute fast ausschließlich im wirtschaftlichen Kontext verwendet, hat aber nach wie vor eine pragmatisch-technokratische Konnotation. Organisation ist ein weit verbreiteter Ausdruck für Behörden, Firmen oder Vereine und durchaus für Unternehmen – ein neutraler Begriff, der aber auch das Bild eines durchstrukturierten, funktionalen Systems transportiert. Während also die ursprünglichen NS-Verwendungen dieser Begriffe verblasst sind, bleibt die grundlegende Idee einer technokratischen, effizienten Ordnung bestehen.
Ein Plädoyer für eine reflektierte und menschenzentrierte Sprache
Das Problem liegt nicht in den Begriffen selbst, sondern in ihrer unreflektierten Nutzung. Wenn wir Gesellschaft nur noch in Begriffen wie „Organisation“, „Management“ oder „Effizienz“ denken, droht genau das, wovor Simone Weil warnt: eine Welt, in der die Staatsmacht nicht nur das Handeln, sondern auch das Denken dominiert.
Die heutige Bürokratensprache spiegelt diese Gefahr wider: Menschen werden zu „Humankapital“. Soziale Probleme werden zu „Herausforderungen des Managements“. Politische Diskussionen drehen sich um „Governance“ und „Prozesse“ statt um ethische Fragen. Hier zeigt sich eine Fortsetzung der nationalsozialistischen Sprachstrategie: Eine technokratische Sichtweise auf Gesellschaft verdrängt moralische und politische Auseinandersetzungen.
Was also tun? Die Lösung liegt nicht darin, bestimmte Begriffe zu verbieten, sondern darin, sie kritisch zu hinterfragen. Sprache muss lebendig bleiben, darf sich nicht in eine technokratische oder ideologisch geprägte Richtung verengen. Drei Anregungen:
Sprache soll die Realität nicht verschleiern. Begriffe wie „Unternehmen“ oder „Organisation“ dürfen nicht dazu dienen, ethische und politische Fragen zu umgehen. Sprache muss den Menschen in den Mittelpunkt stellen. Statt von „Humankapital“ sollten wir von Menschen, Individuen oder Fachkräften sprechen. Sprache braucht moralische Verantwortung. Wir sollten darauf achten, dass Begriffe nicht nur Effizienz, sondern auch Gerechtigkeit, Mitgefühl und Verantwortung transportieren.
Am Ende bleibt die Frage: Wie sprechen wir über Gesellschaft, Politik und Wirtschaft, ohne in eine Sprache zu verfallen, die nur noch in Strukturen, Prozessen und Effizienz denkt? Die Antwort liegt in einer Sprache, die den Menschen nicht als „organisierbare Ressource“, sondern als Individuum mit Würde und Rechten betrachtet.
Gerade in Zeiten geopolitischer Krisen, sozialer Spaltungen und wachsender Autoritarismen zeigt sich, wie entscheidend es ist, Sprache nicht als technokratisches Instrument, sondern als Mittel der Verständigung, Empathie und Verantwortung zu begreifen. Denn wer nur von „Migration als Herausforderung“, „Klimaanpassung als wirtschaftlicher Faktor“ oder „Wirtschaftsoptimierung“ spricht, verliert den Blick auf die Menschen, um die es wirklich geht.